Aktenlage

Nach meinem Zwischenruf erreichten mich Anfragen zu meinen Erfahrungen bei der Arbeit mit Archiven, natürlich besonders der BStU. Ich möchte an dieser Stelle darauf kurz antworten, da jeder Fall aber einzigartig ist, beschränke ich mich auf allgemeine Aussagen. Für detaillierte Informationen sollte man sich mit den entsprechenden Stellen in Verbindung setzen.
Wenn man, wie ich, in den Archiven nach Informationen sucht, sind Überraschungen an der Tagesordnung.
Zum Ersten stellt sich die Frage, in welchen Archiven werde ich eigentlich fündig. Habe ich erst einmal ein Archiv gefunden, dann geht es weiter mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte, also muss ich nachweisen, dass ich berechtigt bin die Akten einzusehen, zum Beispiel durch den Nachweis des Verwandtschaftsgrades und den Nachweis, dass der Betreffende bereits vor mehr als 10 Jahren verstorben ist. Dann die Auswahl der Suchbegriffe, da ja nicht alle relevanten Akten unter dem Namen abgelegt sind, sondern eventuell auch unter einem Firmennamen, Decknamen oder Ähnlichem.
Ein Archiv zu finden scheint einfach zu sein, ist es aber nicht. Gerade im Falle der Jahrgänge, die den 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit erlebt haben kann es sein, dass Akten im Ausland liegen, wie in meinem Falle in Österreich und Russland. Durch die Kriegsgefangenschaft und die Aussiedelung sind Schulzeugnisse und Schülerakten verloren gegangen, es existieren Gefangenenakten, Wehrdienstakten, Ersatzpapiere wurden ausgestellt und es gibt natürlich die „berühmten“ Stasi-Akten. Nach vielen guten Ratschlägen, von Mitarbeitern der BStU, z.B. Dr. Roger Engelmann, habe ich also, wie bereits erwähnt, einen Forschungsantrag gestellt und diesen auch genehmigt bekommen. Ich konnte bereits Akten mit ca. 3000 Blatt einsehen und auswerten und mir ein erstes Bild machen.

Aber erst einmal das Wichtigste überhaupt, der Wahrheitsgehalt der Stasi-Akten. Diesen festzustellen ist nicht einfach, für Jeden, der sich damit beschäftigt sollte das Buch „Aktenlage“ von Roger Engelmann (ISBN 3-86153-098-8) schon fast zur Pflichtlektüre gehören. Ich habe es übrigens nicht nur in der DNB, sondern auch in unserer Stadtbibliothek gefunden. Im konkreten Falle meines Forschungsobjektes fand ich wichtige und neue Informationen, gepaart mit Banalitäten und falschen Details. Also sei hier Vorsicht geboten, den Genossen des MfS darf man nicht alles glauben, auch wenn die dargestellten Fakten im ersten Moment als das Ergebnis tiefgründiger Recherchen erscheinen.
Mit einigen Archiven, wie den Archiven der Jesuiten in München und Wien, dem Archiv der Universität Leipzig, der Handwerkskammer Leipzig und der Polizeidirektion Westsachsen, war die Zusammenarbeit recht unkompliziert.
Anders stellt sich die Arbeit mit russischen Archiven dar, man muss die Unterlagen aus dem RGWIA, wenn vorhanden, über eine Deutsche Institution wie den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes oder die Stiftung Sächsische Gedenkstätten beantragen, was aber gut funktioniert. Die Archive des FSB und der anderen russischen Dienste, bei denen ich dazu angefragt habe, sind da logischerweise zurückhaltender mit der Herausgabe von Informationen, das ist wohl bei Geheimdiensten so. Trotzdem bekam ich eine, wenn auch nicht vollständige, Antwort auf meine Anfragen. Ich habe nach meinen neuesten Erkenntnissen natürlich sofort eine erneute Anfrage dorthin gestellt.
Alles in Allem ist die Arbeit der Informationsgewinnung in den Archiven eine reine Fleissaufgabe, die Auswertung der Informationen zieht sich noch lange hin, da ich natürlich keine wesentlichen Informationen ungeprüft veröffentlichen will und kann. Die Quellen, aus denen das MfS schöpfte, sind schweigsam und manchmal auch nicht mehr auffindbar. Also muss ich nach anderen Quellen suchen, oder auch manchmal eine spektakuläre Information ignorieren.
Also, wer ein ähnliches Projekt starten will braucht Geduld, Zeit und Beharrlichkeit.

Mein Großvater – Anton Köhler

In mehreren Artikeln habe ich bereits über meinen Großvater Anton Köhler geschrieben. Nachdem ich im Archiv der Handwerkskammer Leipzig seine Unterlagen einsehen konnte, will ich noch einmal auf ihn eingehen. In seinem Lebenslauf von 1956, den er für die Gewerbegenehmigung benötigte, schildert er seinen beruflichen Werdegang. Auffallend ist, dass er mit meiner Großmutter am 23.10.1950 in die Wohnung in der Balzacstrasse einzog (Hausbuch von 1954), aber trotzdem in den 50er Jahren nochmals eine Arbeit in Thüringen annahm.
Hier sein Lebenslauf:

Leipzig, den 26.5.1956

L e b e n s l a u f

Ich bin am 23.1.1885 in Fleyh, Krs. Dux / CSR geboren. Nach Besuch der Volksschule in Fleyh von 1891 – 1899 erlernte ich bei Rudolf Reichenberger in Dux das Bau- und Möbeltischlerhandwerk. Von Oktober 1899 bis Oktober 1902 war ich bei der Firma Reichenberger als Lehrling, von 1902 bis 1910 als Gehilfe beschäftigt. Von 1910 bis 1915 arbeitete ich als Gehilfe im Tischlereibetrieb meines Vaters in Fleyh, Krs. Dux. Von 1915 bis 1918 diente ich beim Österreichisch ungarischen Militär. Im Jahr 1919 eröffnete ich meine selbständige Tischlerwerkstatt in Fleyh, die ich bis 1946 betrieben habe. 1946 wurde ich mit meiner Ehefrau aus der Tschechoslovakei nach Thüringen umgesiedelt. Hier arbeitete ich von 1946 bis 1950 bei der Firma Herrmann Kayser, vormals Georg Gotthard, in Völkershausen über Vacha / Rhön als Tischler. Vom Dezember 1950 bis Februar 1951 arbeitete ich hier in Leipzig bei der Fa. Augustin (Glaserei), Leipzig O-5, Erich-Ferl-Straße 30. Von Februar 1951 bis zu Ende der Frühjahrsmesse arbeitete ich als Messeaushilfe bei der Fa. Pabst und Böttcher, Leipzig C-1, Hohe Straße 27. Anschließend arbeitete ich, da es zu dieser Zeit hier in Leipzig keine Möglichkeiten gab, bei der Fa. Georg Walter, Bau- und Möbeltischlerei, in Völkershausen / Rhön als Tischler bis Dezember 1951.
Zur Zeit arbeite ich bei der Firma Carl Walther, Leipzig C-1, Wiesenstraße 24, die ich vom derzeitigen Inhaber wegen Alters übernehmen will. Ich war niemals Mitglied irgendeiner Partei. Auch habe ich nicht in der faschistischen Wehrmacht gedient.

Anton Köhler

Wenn man also einmal nachrechnet, so hat er sich im Alter von 71 Jahren noch einmal selbständig gemacht, 10 Jahre nach der Aussiedelung aus seiner Heimat. Am 31.12.1970, kurz vor seinem 86. Geburtstag löste er die Werkstatt auf und ging in den Ruhestand.

Mein Großvater Anton Köhler starb am 28. April 1975.

Fleyh – Stimmen aus der Vergangenheit

Im Nachlass meines Vaters befinden sich auch Briefe aus den Jahren 1946 – 1950. Einen dieser Briefe möchte ich an dieser Stelle veröffentlichen, da er zu dem Thema Fleyh – Heimat meines Vaters passt. Der Brief ist in Sütterlin geschrieben. Die Handschrift kann ich nicht lesen, deshalb haben sich Herr Rudolf Schneider und Frau Dr. Franziska Rauscher freundlicherweise dazu bereit erklärt, mir diesen zu „übersetzen“. Die folgende Transkription des Briefes enthält Erläuterungen zu den Personen und Orten, die durch Herrn Schneider hinzugefügt wurden.

Die Familie Josef Karasek bestand aus den Eltern, vier Mädchen und einen Jungen, der in dem Brief aber nicht erwähnt wird. Der Ernst ist erst 1936 geboren und war 1946 noch Schüler. Die Schreiberin, Maria Karasek ist offensichtlich die Schwester von Josef Karasek und hat mit ihrem Vater mit im Hause Nr. 56 gewohnt. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie einen Buckel und war nicht verheiratet. Sie war aber Näherin und die Nähmaschine war ihr ein und alles. [Rudolf Schneider]

Text des Briefes:

Liebe Familie Köhler !

17.11.1946

Endlich nach 4 Monaten erhielt ich durch Schmiedalbin [1] Ihre werte Adresse. Auch uns ist nun dasselbe Los beschieden, denn wir sind am 5. September von Fleyh fort gekommen. Wir erhielten  abends um ½ 10 Uhr Befehl, früh um 8 Uhr am Dorfplatz zu sein. Nun war aber Vater, ich und Ottel [2] nicht dabei, wie ging das. Wir mußten zur Narodni Wipor [3] wegen der Ottl und wegen uns [4], mußten früh zeitig nach Moldau [5]. Ich hatte ein Gesuch wegen der Nähmaschine gemacht, es wurde auch zugesagt. Wie wir früh hinkamen, gab es Tschich und Golascheck [6] nicht zu und trotz bitten und betteln mußte ich sie aus der Kiste herausgeben, in Dux hätte ich sie erhalten, die waren sehr fein bei der Durchsuchung [7]. Na, komplett haben sie die Tschechen nicht, ich habe die Spulchen und die Bestandteile zum Endeln und Knopflöcher nähen sowie Riemen Nadeln alles hier. Wenn ich drum komm [8], haben sie auch nichts. Doch nun steh ich in der Fremde ohne Erwerb. Erst waren wir 14 Tage hier in Wittenburg im Lager, kamen dann am 23. in das Quartier, haben ein großes und ein kleines Zimmer und eine kleine Küche richteten wir uns aus einem Bad. [9]. Seiche Richart [10] setzte uns einen Ofen. Die Wohnung war ganz leer. Die Kisten sind Tisch und Stuhl. Ich war anfangs einige Halbtage Kartoffel glauben [11] erhielt jedesmal für einen Halbtag 30 Kilo. Dann stoppelte ich noch paar dazu, damit ich für Vater und mich zum Zusetzen hab. Jetzt gehe ich Halbtagsweise hausnähen und auf der Hausfrau ihrer Maschine kann ich auch nähen. Doch das Heimweh werde ich nicht los. Mit uns kamen Michlfranzenton [12], Briggensef [13], Seiche Richard, Titelbauerfranz [14], Schlegel [15] und Lorenzenalbin [16] mit fort und sind auch alle hier [17]. Gott sei Dank. Wir haben eine katholische Kirche hier, 2 Geistliche. Also jeden Tag 2 hl Messen um ½ 7 Uhr und um 7 Uhr. Ich habe es auch näher wie zu Hause. Gehe jeden morgen um ¼ 7 Uhr. Geh sage ich. So feierlich ist es wie an einem Wallfahrtsort. Und die schönen Predigen. Es sind meistens alles Flüchtlinge von Reichenberg, Böhm. Leipa, Brüx, Komotau, auch einige Moldauer sind hier.
Nun meine Lieben! Habt Ihr von Pepi wieder mal Post bekommen. Kohl Ernst von Motzdorf ließ auch schon lange nichts hören und jetzt ist er in Russland gefangen. Und so hörte ich schon, daß mancher schon für tot erklärt wurde und jetzt wieder geschrieben hat. Ich würde Ihnen wünschen, wenn Pepi plötzlich käm.
Mein Bruder erhielt am 10 November von Doktor Hellmich aus Fleyh einen Brief. Er hat ihn am 31. Oktober geschrieben und teilte uns mit, daß die paar Deutschen noch drin sind und Seifert Karl [18] vielleicht in unser Haus müßte, weil er die Säge versteht [19]. Wißt Ihr, daß er bei der Hanselmarie [20] ist und Schmiedsef [21] bei der Liebscher Hilde [22]? Wie wird es den paar Deutschen gehen? Suhrsef [23] ist bei Rudolf [24] wo Drexler war [25]. In den Stall und Scheuer kam das ganze Vieh von den Leuten, die fort waren und jetzt stehn blos noch drei Kühe dort, so schrieb uns Doktor Hellmich. Auch liegt schon …… bei uns [26]. Drei Dinge sind es die ich sehr vermisse und zwar: das Grab meiner Mutter, die Nähmaschine und die gute Milch. Hier sieht  man, obzwar hier sehr viel Landwirtschaft ist, keinen Tropfen. Bruder geht als Mühlenbauer, Annl ist bei einem Lehrer in Stellung, Ottl in der Zuckerfabrik, die Schwägerin und Martha gehen zu den Bauern, Maritsch und ich, kochen Kartoffel und Kraut und Kraut und Kartoffel [27]
Nun will ich schließen, nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch belästige, es drängt mich fast [28] und wenn ich schreibe, ist es, als ob ich mit Euch reden könnte, wir haben viel verloren, denn wir haben unsere Heimat verloren, doch wenn wir nur den Glauben nicht verlieren, werden wir auch unser Schicksal geduldig ertragen. Vielleicht sehen wir uns auch einmal wieder. Also nochmals herzliche Grüße
Eure Maria Karasek und Angehörige

Legende:
1 Albin Schindler, Haus Nr. 16, war von Beruf Schmied
2 eine der Töchter von Josef Karasek
3 Narodni Vipor heißt so viel wie Nationalausschuß, Stadtverwaltung, Gemeindeverwaltung
4 sie meint sicher sich und ihren Vater
5 auf der Ausweisungsliste stand scheinbar nur Josef Karasek mit Frau und Kindern, die Tante mit ihrem Vater war offensichtlich nicht dabei. Und die Ottl war meines Wissens Hausangestellte in Moldau
6 das müssen die Namen von zwei Tschechen sein, die der Schreiberin bekannt waren
7 das paßt nicht ganz zu der Aussage von Anna Karasek. Siehe „Chronographie der Ortschaft Fleyh“ Teil 2 Seite19
8 soll wohl heißen: „wenn man mir das nimmt“
9 Diese Schilderung der Wohnverhältnisse deckt sich teilweise mit der Aussage von Anna Karasek. Siehe „Chronographie der Ortschaft Fleyh“ Teil 2 Seite 19. Anna Karasek ist Jahrgang 1925 und die Schreiberin ist ihre Tante
10 Seiche Richard stammt aus dem Nachbarort Motzdorf, aus dem Hause Nr. 57
11 Kartoffel lesen
12 Anton Köhler aus Fleyh, Haus Nr. 58 (nicht der Vater von Josef Köhler)

13 Josef Schwabe aus Fleyh, Haus Nr. 18, Spitzname = Brückenseff
14 Franz Weinelt aus dem Nachbarort Motzdorf, Haus Nr. 16
15 Anton Schlegel aus dem Nachbarort Motzdorf, Haus Nr. 11
16 Albin Preißler aus dem Nachbarort Motzdorf, Haus Nr. 34
17 Karasek war das letzte Haus in Fleyh, Richtung Motzdorf. Wer von den Motzdorfer Bürgern am 5. September 1946 mit ausgewiesen wurde, war mir bisher nicht bekannt
18 Vogelsteller-Korl, der Bruder Ihrer Mutter
19 was damit gemeint ist, verstehe ich nicht [vielleicht Umgang mit einer Motorsäge / Sägemaschine T.K.]
20 Haus Nr. 76
21 Josef Schindler, Haus Nr. 55
22 Haus Nr. 1
23 Josef Pohl, Haus Nr. 73
24 Josef Höbelt, Haus Nr. 19
25 Nachbar von Josef Höbelt
26 wahrscheinlich heißt das fehlende Wort „Schnee“
27 die angeführten Namen sind die Namen der 4 Töchter, die Josef Karasek hatte. 1936 kam noch ein Junge dazu, der Ernst. Sie waren also eine siebenköpfige Familie
28 sie meint sicher : „es drängt mich halt“